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RUTH
ALLMERS
WIE WIR
BREMER
WURDEN
Der echte Bremer muß »tagen born« sein. In
Bremen geboren und auch erzogen. Wir vier: Großmutter, Mutter und zwei Kinder
sind nach Bremen gezogen und fühlten uns am Ende des Krieges wie neu geboren.
Wir sind Bremer geworden. Nachdem fünf Jahre später auch noch der echte Bremer
Curt Allmers in unsere Familie kam, darf das auch niemand mehr bezweifeln. Und
so fing es an:
Berlin wurde gegen Ende des Krieges fast
täglich von Bombern aus der Luft beschossen, wir bekamen kaum noch Schlaf und
waren total entnervt. Einige Wochen erholten wir uns in Johannisbad im
Riesengebirge, einige Wochen waren wir in Swinemünde bei meinen Eltern. Ich
bewarb mich um eine Stelle als Heimleiterin in einem Kindergärtnerinnenseminar
in Posen. Ich freute mich, als das klappte, denn in Posen war ich geboren,
wollte es gern wiedersehen und dort gab es keine Fliegerangriffe. Die Abreise
war geplant.
Ich fuhr mit den Mädeln nach Swinemünde, auch
von Swinemünde aus zum Abschiednehmen zu Wilhelms auf Gut Hohenhof. Es waren
herrliche und vor allem ruhige Spätsommertage. Doch dann erreichte mich die
Nachricht, daß mein Vater schwer erkrankt sei. Dagmar kränkelte etwas und blieb
daher in Hohenhof zurück. Sigrid und ich fuhren schnell zu meiner Mutter, um
ihr nahe zu sein. Denn wenige Tage später starb mein Vater.
Unterdessen war Dagmars Zustand schlimmer
geworden; man stellte Ruhr fest und lieferte sie in ein Stettiner Krankenhaus
ein. Auch Sigrid erkrankte. Ich hielt es geheim und kurierte sie mit rohen
Äpfeln, die ein Onkel aus Berlin zur Beerdigung mitbrachte. Es kamen viele
Verwandte, aus Berlin, aus Rathenow und auch aus Posen. Ich hatte meine Abfahrt
dorthin verschieben müssen, denn es mußten noch schnell alle Formalitäten
erledigt werden. Meine Mutter kam nun mit mir und Sigrid; sie wollte zuerst zu
dem Posener Onkel Otto, einem Bruder meines Vaters. Dagmar konnten wir auf der
Hinreise im Stettiner Krankenhaus besuchen. Sie staunte uns durch eine
Glasscheibe an, ließ uns dann aber ganz links liegen. Es war für mich ein ganz
scheußlicher Augenblick.
Am Nachmittag ging unser Zug. Wir bekamen
kaum ein Plätzchen. Der Zug kam aus Hamburg und die Abteile waren gestopft voll
von flüchtenden Menschen. In der Nacht zuvor waren über Hamburg die ersten
Phosphorbrandbomben niedergegangen. Die meisten hatten nur das nackte Leben
gerettet und gingen in eine unbekannte Zukunft Wir teilten unsere Brote mit
ihnen und ließen sie erzählen, immer wieder erzählen.
Abends kamen wir in Posen an. Vom Seminar und
der Verwandschaft war keiner am Bahnhof. Es war ja Krieg und unsere Telegramme
waren nicht angekommen. Dafür trafen wir Fräulein Kinzinger, eine
Architekturstudentin, die einmal bei uns gewohnt hatte. Sie war nach Posen
kriegsdienstverpflichtet und wollte eine Freundin abholen, die wir schon in
Stettin getroffen hatten. So zogen wir alle erstmal für die Nacht in ein Hotel
im Messegelände.
Früh morgens brachte ich meine Mutter und
Sigrid zum Onkel Otto. Dann fuhr ich zum Seminar, das in einem früheren
Altersheim in der Waldenstraße untergebracht war; und es dauerte auch gar nicht
lange, da hatte ich mich eingearbeitet, hatte angenehme Kolleginnen und zwei
nette Zimmer. Ich holte noch Mutter und Sigrid zu mir und nach sechs Wochen
durfte ich auch endlich Dagmar aus Stettin holen.
Es folgten einige ruhige und auch interessante
Monate. Dann hatten mich die Unsicherheiten des Krieges wieder eingeholt. Die
Vorgängerin in meinem Amt hatte geheiratet, so wurde die Stelle für mich frei.
Doch schon nach fünf Monaten war sie Witwe und wollte zurück zu uns. Ich machte
ihr Platz - ihren Platz frei - und wurde (für eine Ausbildung) für eine
Ausbildungsschule für Katasteramtslehrlinge, als Heimleiterin bestimmt. Diesmal
hatte ich das ganze Personal unter mir, nebst Kasse und Buchführung.
Ich wurde zuerst in ein Wohnheim in Karlesch
geschickt, wo man mich einarbeiten sollte. Nach zwei Wochen, in denen man mich
wie einen Gast verwöhnte, fuhr ich nach Liebenstedt, polnisch Miorslav. Die
Schule war in einem herrlichen großen, neugotischen Schloß untergebracht. Zwei
schöne Zimmer standen zu unserer Verfügung. Natürlich holte ich gleich Mutter
und die beiden Mädels zu mir, die so lange in Posen in einem Wohnheim wohnten.
Wir vier waren - außer der Küchen-leiterin und dem polnischen Personal - die
einzigen weiblichen Wesen im Haus. Aber was heißt Haus, es war eben ein Schloß
mit einem Turm, mit einer großen Eingangshalle, mit doppelseitigem
Treppenaufgang, mit einer Säulenvorhalle und einem riesengroßen Park. Wir haben
hier wunderschöne Monate erlebt. Es gab viel Arbeit für mich, die Freude, aber
auch Aufregungen brachte. Sigrid ging zur Schule, Dagmar wurde Kindergartenkind
und Mutter wanderte viel im Park spazieren. Vor allem aber, es gab hier keinen
Fliegeralarm.
Im Radio hörte man nur von deutschen Siegen,
ein Rückzug war stets nur strategisch bedingt. Wir ahnten nicht, wie nah uns
die Front schon war. So kam im Spätherbst 1944 für uns eine böse Überraschung.
Die Schule wurde aufgelöst, Lehrer und
Schüler kriegsdienstverpflichtet, ins Schloß zog eine jugoslawische
Fliegerstaffel, die dem deutschen Heereskommando unterstellt war und auch
deutsche Uniformen trug. Bald mußten auch wir gehen.
Ich bekam eine Heimleitung in Obornig, in
einem Mädchenwohnheim, angeboten. Kurz vor Weihnachten zogen wir um. Es war
wirklich schon fast ein Umzug, denn ich hatte im Laufe der Monate viel von
Swinemünde und Berlin hierher gerettet. Ich nenne das heute weggerettet. Denn
Silberbestecke, Bettwäsche, Kristall, alles ist ja nun weg. Das Fest verlebten
wir noch ruhig und schön; Uschu kam aus Posen und feierte mit uns.
Doch schon in den ersten Januartagen 1945
jagten sich bedrohliche Nachrichten. Durchziehende Soldaten warnten uns. Busse
mit Flüchtlingen aus Lodz kamen und wurden von uns verpflegt. Da fing meine
Mutter an zu pakken. Ich schickte die Heimbewohner(in) in ihre Heimatorte,
zahlte aus der Kasse alle Fahrkosten, was ich alles säuberlich belegte. Wo mag
die leere Kasse mit den genauen Abrechnungen geblieben sein? Weg.
Ich setzte meine drei Lieben in den
Pferdeomnibus, der zum weit entlegenen Bahnhof fuhr; die Koffer kamen aufs
Dach, für mich blieb nur noch ein Platz auf den Treppenstufen, mit
ungesichertem Halt am Wagengriff. Wir schafften es aber und bekamen sogar einen
Zug nach Schneidemühl. Ich wollte nicht über Posen fahren. Vor der Stadt
standen schon die Russen. Ich hatte im Sinn, nur Mutter und die Kinder in
Sicherheit zu bringen, und dann zurückzufahren. Soviel Optimismus hatte ich
noch. In Schneidemühl war ersteinmal Schluß. Es schneite und war sehr kalt. Wir
hockten in der Bahnunterfuhrung; die Koffer hatten wir flach auf den Boden
gelegt, die Kinder in Decken gewickelt und darauf schliefen sie fest.
Ich wußte, daß von hier ein Kurierzug nach
Stettin fuhr. Ein Eisenbahner zeigte mir die Wagen und ich brachte Mutter und
zwei Koffer dorthin. Dann holte ich die Kinder und die restlichen Koffer,
darunter - man bedenke sogar - einen Hutkoffer. Vornehm geht die Welt zugrunde.
Unterdessen waren andere Flüchtlinge
aufmerksam geworden, die Wagen waren voll besetzt, die Kinder hob man über die
Köpfe der Menschen hinein und mich schoben zwei Soldaten ins Abteilfenster. Für
einen Platz hatte meine Mutter gesorgt. In einigen Stunden kam auch eine
Lokomotive und wir tuckerten los. Das hatten wir erhofft, aber bis zuletzt
nicht genau gewußt. Wir fuhren auf Nebenstrecken durch halb Hinterpommern. Über
Deutsch Krone und Stargard nach Stettin. Von hier hoffte ich, meine Leutchen
nach Swinemünde zu bringen.
Doch in Stettin sahen wir zum ersten Mal eine
völlig zerbombte Stadt, die in Auflösung war. An Swinemünde war nicht mehr
zudenken. Es gab keine Möglichkeit dorthin. Am Bahnsteig wurden Fahrkarten
verteilt, um dem Strom der Flüchtlinge Einhalt zu gebieten. Ich bekam für uns
Fahrkarten nach Kamin in Pommern. Das kannte ich von einem Schulausflug zum
Dom, wußte aber auch wie schlechte Straßen und Bahnverbindungen es hatte. Mir
war gar nicht wohl. Hätte ich gesagt, ich hätte einen Vetter in Lübeck oder
Bremen, man hätte uns schon damals hierher geschickt. Aber das wäre heller
Wahnsinn gewesen. Im Westen fielen ja täglich Bomben, also fuhren wir nach
Kamin.
Und zurück über die Oder und über Gollnow,
Wietstock an den Kammer Bodden. Wir wurden in den Saal einer Ziegelei, der mit
Strohlagern zu einem Schlafsaal umfunktioniert war, untergebracht. Doch wieder
einmal - wie schon so oft - hatte ich in kleinen Dingen Glück. Ich erinnerte
mich an einen Vetter meines Vaters, der in Kamin wohnte. Er war zwar
eingezogen, aber seine Frau verwandte sich für uns, und so waren wir unter den
ersten, die eine vernünftige Unterkunft bekamen, in einer hübschen
Eigentumssiedlung, Mutter bei dem Oberkommissar der Polizei, ich mit den
Kindern bei einem Postinspektor. Dies sollte in sechs Wochen wieder das Gute
haben, daß wir Stunden vor der offiziellen Räumung der Stadt schon davon
erfuhren; vielleicht konnten wir uns dadurch retten.
Wir hatten es sehr gut getroffen. Gute,
hilfsbereite Menschen betreuten uns wie Familienangehörige. Sigrid ging wieder
einmal in eine andere Schule, ich sammelte mit Daggi Holz für den Ofen und
jagte hinter Eßbarem her. Wir konnten auf die Bahnstrecke sehen. Aber
ununterbrochen rollten die Züge mit Flüchtlingen vorbei, zum Teil bei der
schneidenden Kälte in offenen Güterwagen. Viele Kleinstkinder erfroren damals.
Dann kam auch für uns der Tag des Weiterziehens. Ich nähte aus derben
Handtüchern Rucksäcke für Sigrid und mich, einen Teil der Koffer ließen wir
zurück und wir hofften, von einem Treck oder Soldatenzug mitgenommen zu werden.
Auf dem Weg zur Landstraße mußten wir erst
über die Bahngleise. Und wieder hatten wir Glück. Ein Bahnbeamter zeigte uns
einen stehenden Güterzug, der für diesen Notfall bereitstand. Aber wieder kamen
auch die langen bangen Stunden der Ungewißheit: Bekommen wir eine Lokomotive
und wird sie auch fahren können?
In der Nacht um drei Uhr ging das Feuerhorn,
das Signal für alle Kammer, sich zu retten. Wir waren noch immer ohne
Lokomotive und durchlebten angstvolle Viertelstunden. Endlich kam eine Lok und
endlich fuhren wir ab; in den Morgenstunden des 5. März 1945.
Um über die Dievenow und den östlichen
Oderarm zu kommen, mußten wir zuerst südöstlich nach Wietstock. Dort hätte es
uns beinahe erwischt. Ein russischer Panzer beschoß unseren Zug, der Lokomotivführer
und drei Menschen im Nebenwagen starben. Ein Mitfahrender sprang auf die Lok
und brachte den Zug zum Fahren, um aus dem Gefahrenbezirk herauszukommen.
Bei Wollin ging es auf die gleichnamige
Insel. Hinter uns kam noch ein Zug mit nur vier Wagen, dann wurde die Brücke
gesprengt. Heute scherzen wir über diese Schreckminuten, denn ich hatte mich
über die Kinder geworfen und Dagmar noch einen Kochtopf über den Kopf gestülpt.
Ob das geschützt hätte? Tja, wir scherzen darüber und doch errege ich mich
sehr, während ich dieses schreibe. Auch noch nach fast vierzig Jahren.
Drei Tage und drei Nächte brauchten wir für
die etwa dreißig Kilometer auf der Insel. Der Zug ruckte an und blieb nach
wenigen Metern wieder lange stehen. Nur einige Meter neben den Gleisen verlief
die Landstraße. Sie war zur Einbahnstraße geworden. Alles fuhr nach Westen.
Über den Kammer Bodden kamen Flüchtlinge mit Booten und hasteten nun zu Fuß
weiter. Aber sie liefen doch und wir saßen les~ Und viele stiegen aus und
liefen mit. Ich kannte die Insel und wußte, daß es keine Brücke über die Swine
gab. Wir würden alle in Ost-Swine festsitzen. Das Laufen würde nicht viel
nützen.
Als wir endlich dort ankamen, waren die
Gleise des kleinen Bahnhofs voller Züge. Die Leute von der Bahn und auf dem
Trajekt ( Eisenbahnfähre) arbeiteten Tag und Nacht, um immer drei Waggons auf
die Insel Usedom überzusetzen. Ich lief schnell zu einer Schulfreundin, die in
der Nähe wohnte und etwas zu essen geben sollte. Wir hatten die drei Tage fast
nichts gegessen.
Ich hatte nur bei vorbeiziehenden Soldaten
ein Kommißbrot gegen Zigaretten getauscht. Auch unser Eisenbahnwaggon wurde
gegen Abend nach Swinemünde übergesetzt. Dort hatte meine Mutter ihre Wohnung.
Sollten wir aussteigen? Ich wollte nur weiter westwärts. Wäre aber bereit
gewesen, mit ihr auszusteigen; aber auch sie wollte nur weiter, den Russen zu
entgehen. Lieber den Franzosen oder den Engländern in die Hände fallen. So
rechneten wir uns eine Überlebenschance aus.
Wieder dauerte es viele Stunden bis ein Zug
zusammengestellt war. Wir waren schon an einem Punkt angelangt, wo uns alles
egal war. Wir hatten in der Ecke des Waggons Stroh zusammengescharrt und
versuchten zu schlafen. Aber nicht einmal dieses Plätzchen blieb uns, denn
plötzlich wurden die großen Türen aufgeschoben, und es drängten viele Menschen
herein. Es waren die Überlebenden der Flüchtlingstransporte über die Ostsee.
Denen ging es noch schlechter als uns. Sie hatten oft nur ihr Leben gerettet
und hatten auf den Schiffen unter Beschuß gelitten. Viele kleinere Boote waren
dadurch gekentert und waren vor ihren Augen untergegangen. Es konnten kaum
Ertrinkende gerettet werden.
Vollgestopft setzte sich dann der Zug in
Bewegung. Es ging über die Insel Usedom, dann war da die Eisenbahnbrücke bei Kamin
über den Haffarm. Weiter gings über Anklam, Greifswald, Tribsees bis nach
Güstrow in Mecklenburg. Natürlich blieben wir oft unterwegs stehen; mal
brauchte die Lokomotive Wasser, das die Männer in Eimern herantrugen, mal wurde
auch die ganze Lokomotive abgekoppelt.
Bei so einem Aufenthalt wagte ich mich in ein
Haus. Meine Kinder nahm ich an der Hand und ich hatte immer Angst vor einer
Trennung. Zwar hatten Sigrid und Dagmar immer einen Brustbeutel um; darin war
eine Berliner Adresse und je fünf Mark. Ich hatte mir auch mein Geld und die
wichtigsten Urkunden und Zeugnisse auf den Bauch gebunden. Wir drei klopften
frierend und hungernd an eine Haustür und wir fanden hilfsbereite Menschen. Sie
stopften uns die warmen Pellkartoffeln in die Manteltaschen und gaben uns noch
Brot und Apfelsaft. Als wir wieder auf unserm Strohlager saßen, wurden wir
beneidet und konnten sogar noch etwas helfen.
In Güstrow wurden wir ausgeladen und mit
Lastwagen in Barackenlager gefahren. Dies war ein Notbau. Zum Teil fehlten noch
die Türen, aber es gab frisches Stroh und kleine eiserne Öfen. Wir hatten eine
große und sehr resolute Frau bei uns, die hatte im Umsehen etwas Holz besorgt
und versorgte den kleinen Ofen. Zum ersten Mal bekamen wir alle ein warmes
Essen und Frühstück. Fast zwei Wochen waren wir hier und hofften, nun bald
irgendwo in der Stadt ein Privatquartier zu bekommen. Doch dann war es wieder
einmal soweit: Aus dem Osten kamen immer neue Flüchtlinge und man schickte uns
weiter.
Früh morgens, als ich den Malzkaffee holen
wollte, hieß es: Sofort in den Lastwagen steigen und zum Bahnhof.« Wir packten
unsere Siebensachen zusammen; viel war es nicht mehr. Der Hutkoffer hatte schon
längst das Weite gesucht wie vieles andere auch. Und wir hatten aber alle
mehrere Hemden, Hosen und Strümpfe übereinander gezogen. Nur leider waren
dadurch die Schuhe sehr eng und die Füßchen der Kinder hatten im Frost
gelitten. Ich glaube, wir bewegten uns auch viel träger, hatten auch noch
Koffer zu schleppen und meine Mutter mit Dagmar hinkte dauernd hinterher. Wir
hätten im Zug wohl keine Plätze mehr bekommen, doch unsere resolute
Strohnachbarin winkte uns zu sich. Sie hatte zwei Sitzplätze für uns
freigehalten in einem Traglastenabteil; und wieder fuhren wir los ins
Ungewisse.
Aber wir fuhren westwärts. Wir hatten uns
längst abgewöhnt, auf die Namen der Stationen zu achten. Es gab ja auch kaum
einmal einen Halt. Sicher wollte uns auch keiner haben. Alle kämpften in den
letzten Kriegsmonaten ums Überleben. Plötzlich packte uns die Angst, daß man uns
nach Dänemark bringen wollte. Doch wir kamen aus Polen und wollten in
Deutschland bleiben.
Spät nachts hielten wir auf einem großen und
verdunkelten Bahnhof. Wir konnten nur lesen: »...men Hauptbahnhof«. Wo mochten
wir wohl sein? Wir schliefen alle vor Erschöpfung ein, die Kinder auf dem
Schoß. Plötzlich ruckte der Zug an. Wir mußten uns wieder auf viele Stunden
gefaßt machen. Aber nach einer halben Stunde hielt er schon wieder und man
rief: »Alles aussteigen«. Die Station hieß Bremen-Blumenthal.
Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Nach
Bremen hatte man uns gebracht. Wo es fast nächtlich Fliegerangriffe gab. Es
klappte aber alles wie am Schnürchen, Das Gepäck wurde gesondert zur
Wollkämmerei gefahren und uns versichert, daß nichts verloren ginge.
Wir gingen zu Fuß hinüber zur Fabrik und
bekamen einen Saal, ein warmes Getränk und Brot. Dann hieß es, wir sollten uns
anstellen, um Quartiere zu bekommen. Immer bin ich bei den letzten. Diesmal
wollte ich bei den ersten sein. Ich trug über meinem Pelzmantel noch einen
Wintermantel, den zog ich aus, um schick auszusehen und kreditwürdig. Und dann
stellte ich mich an. Ich war bei den ersten. Dann wurden wir zu dreien an die
Tische gerufen, wo man uns die Zimmer zuteilte. Ich wollte beim zweiten Schub
sein, um erst einmal zu sehen, wie alles lief. Ein Mann in Uniform trat zu mir
und fragte, wieviele Familienmitglieder wir seien? Ich spielte das Alter meiner
Jüngsten hoch und das Alter meiner Mutter herunter und mit dem Erfolg, daß der
Mann mich mit zur Verteilung nahm und dann in sein Haus aufnahm. Wieder blieb
uns das kleine Glück treu. Wir bekamen zwei Räume, die zusammenhängend waren,
im Zentrum von Blumenthal. Alle Geschäfte und Behörden waren in der Nähe und
später auch die Schulen. Es war der 12. März 1945.
Wir waren untergekommen - aber noch nicht
gerettet. Jede Nacht bis zu fünfmal gab es Alarm. Der einzige Schutz, ein
Eisstollen, in dem wir stundenlang saßen. Aber nicht nur wir Flüchtlinge, nein,
auch die Einheimischen saßen mit dort. Das hatte wieder das Gute, daß wir sie
und sie uns kennenlernten. Das hat in den ersten schweren Friedensmonaten
manche Frucht getragen. Sie sagten uns oft, wo es etwas zu kaufen gab, und wir
wechselten uns beim Anstehen ab. Das Leben normalisierte sich ganz allmählich.
Die Schule begann wieder, Dagmar kam in den Kindergarten, Omi nähte schöne neue
Kleider aus alten für uns und für Fremde und ich bekam eine Anstellung. Wir
hatten überlebt und waren Bremer geworden.
Als Buch erschienen als einmaligeAuflage
Dezember 1998-Zehn Exemplare-
Satz und Gestaltung: Revonnah Verlag Hannover
–
Gedruckt in der Garamond auf GSO elfenbein 100
gr/qm
alterungsbestandig und ~i~ten schwarzblau 238
gr/qm mit
Le Coq Bütten - Gesamtherstellung: Offizin
Koechert
Hannover - printed in germany